Soziale Kompetenzen neu gedacht

Soziale Kompetenzen neu gedacht

In den letzten Jahrzehnten hat sich unser Verständnis sozialer Kompetenzen im Zusammenhang mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) stark gewandelt. Während soziale Fähigkeiten früher kaum beachtet oder als nebensächlich eingestuft wurden, gelten sie heute als entscheidender Schlüssel zu Teilhabe, Selbstständigkeit und Lebensqualität.

Frühe Sichtweisen: Soziale Kompetenzen als „Zusatz“

In den Anfängen der Autismusforschung lag der Schwerpunkt vor allem auf den diagnostischen Kernmerkmalen: Sprache, Wiederholungsverhalten und offensichtliche soziale Beeinträchtigungen. Soziale Fähigkeiten wurden lange Zeit nicht als zentrales Entwicklungsziel verstanden, sondern eher als „freundliche Zugabe“, wenn überhaupt.

Trainingsziele beschränkten sich meist auf oberflächliche Fertigkeiten: Blickkontakt, Nachahmung, einfache Höflichkeitsfloskeln. Diese reduktive Sichtweise führte dazu, dass viele Kinder und Jugendliche nicht ausreichend auf die Anforderungen des Alltags vorbereitet waren.

Wandel: Vom Nebenschauplatz zum Kernbereich

Heute wissen wir, dass soziale Kompetenzen ein grundlegendes Entwicklungsfeld darstellen. Sie sind nicht nur wichtig für den Austausch mit anderen, sondern auch für Selbstbestimmung, Lernen und gesellschaftliche Teilhabe.

Das Verständnis von sozialen Kompetenzen hat sich stark erweitert und umfasst heute unter anderem:

  • Selbstvertretung und Mitbestimmung: eigene Bedürfnisse äussern, Entscheidungen treffen, Nein sagen
  • Beziehungen in allen Lebensbereichen: Freundschaften, Familie, Partnerschaften, berufliche Kontakte
  • Alltagskompetenzen: selbstständiges Wohnen, Freizeitgestaltung, kritisches Denken
  • Umgang mit digitalen Medien: Kommunikation online, Sicherheit im Netz
  • Identität und persönliche Entwicklung: Themen wie Sexualität, Zugehörigkeit und Selbstwahrnehmung

Damit hat sich auch die Wahrnehmung verändert: Soziale Kompetenzen sind keine „weichen“ Fähigkeiten am Rande, sondern ein zentrales Element für Lebensqualität und Zukunftsperspektiven.

Zukunft: Noch mehr Individualisierung und Partizipation

Die Entwicklung zeigt klar in Richtung Individualisierung. Statt allgemeiner Programme rückt die Frage ins Zentrum: Welche sozialen Fähigkeiten sind für diese Person in ihrer Lebenswelt jetzt relevant und bedeutsam?

Daraus ergeben sich neue Schwerpunkte:

  • Partizipation: Betroffene stärker in die Auswahl ihrer Ziele einbeziehen
  • Relevanz: Nicht jedes Ziel passt zu jeder Person, entscheidend ist der Bezug zum Alltag
  • Vielfalt: Anerkennung, dass soziale Kompetenzen unterschiedlich gelebt und definiert werden können
  • Neurodivergente Perspektiven: Die Sichtweise von Menschen im Spektrum auf soziale Interaktion ernst nehmen und berücksichtigen

Quellen

Lai, M.-C., Kassee, C., Besney, R., Bonato, S., Hull, L., Mandy, W., Szatmari, P., & Ameis, S. H. (2019). Prevalence of co-occurring mental health diagnoses in the autism population: A systematic review and meta-analysis. The Lancet Psychiatry, 6(10), 819–829. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(19)30289-5

Hartley, S. L., & MacLean, W. E., Jr. (2006). A review of the reliability and validity of Likert-type scales for people with intellectual disability. Journal of Intellectual Disability Research, 50(11), 813–827. https://doi.org/10.1111/j.1365-2788.2006.00844.x

Thompson, A. D. (2021, November 13). Cartoon. The New Yorker. https://www.newyorker.com

Krempa, J., & Bermingham, K. (2022, June). The past, present & future of social skills & autism [Conference presentation]. CitePro.