Seit den 1990er Jahren gibt es eine wachsende Bewegung, die sich gegen Belohnungssysteme in der Kindererziehung richtet. Prominent vertreten wird sie durch den amerikanischen Autor und Vertreter des «sanften Erziehens» Alfie Kohn. In seinem Buch Punished by Rewards (1993) beschreibt er Belohnungen als «nutzlos» und sogar «kontraproduktiv». Seine Hauptthese: Wer Kinder für bestimmte Verhaltensweisen belohnt, zerstört ihre intrinsische Motivation, also die innere Bereitschaft, etwas aus eigenem Antrieb zu tun.
Aber stimmt das wirklich? Was sagt die Forschung wirklich?
Tatsächlich ist die wissenschaftliche Studienlage auf den ersten Blick widersprüchlich. Einige Studien unterstützen Kohns These: Belohnungen können das Interesse an der eigentlichen Tätigkeit verringern besonders, wenn es sich um eine Aktivität handelt, die das Kind ohnehin gerne macht. In diesem Fall kann eine äussere Motivation (z. B. ein Sticker oder ein Glace) die Freude an der Tätigkeit selbst verdrängen.
Andere Studien zeigen jedoch, dass Belohnungen gerade bei ungeliebten Aufgaben die Motivation steigern können und dies auch langfristig. Der entscheidende Punkt liegt also in der Art der Tätigkeit:
- Wird eine Aktivität bereits gerne gemacht, können materielle Belohnungen (Süssigkeiten, Geld, Sticker) die Freude daran schmälern.
- Wird eine Aktivität nicht gerne gemacht, können Belohnungen dabei helfen, sie überhaupt erst in Gang zu bringen und so letztlich zur Entwicklung von intrinsischer Motivation führen.
Beispiel: Ein Kind, das das Baden hasst, könnte durch eine Belohnung dazu motiviert werden. Mit der Zeit merkt es vielleicht, dass es das saubere Gefühl nach dem Baden oder das entspannte Einschlafritual mag. Die Belohnung wird dann mit der Zeit überflüssig und das Verhalten bleibt.
Belohnungen mit Bedacht einsetzen
Für Eltern ergibt sich daraus eine klare Handlungsstrategie: Belohnungen können sinnvoll und wirkungsvoll sein, wenn sie richtig eingesetzt werden. Hier ein paar wissenschaftlich fundierte Tipps:
- Nur bei fehlender Eigenmotivation einsetzen
Wenn dein Kind eine Aufgabe ohnehin gerne macht oder ohne Aufforderung erledigt, ist eine Belohnung unnötig und möglicherweise kontraproduktiv. - Keine Belohnungen für soziales Verhalten
Für Verhaltensweisen wie Teilen, Helfen oder Rücksichtnahme sollte keine materielle Belohnung erfolgen. Diese Handlungen sollten aus sich selbst heraus als positiv erlebt werden. Stattdessen helfen Lob und positive Aufmerksamkeit. - Belohnungen gezielt einsetzen
Definiere klar, welches Verhalten belohnt wird. Belohnungen dürfen nicht wahllos oder inkonsequent vergeben werden – sonst verlieren sie ihre Wirkung. - Sofortige und konsequente Belohnung
Damit Kinder die Verbindung zwischen Verhalten und Belohnung herstellen, muss sie unmittelbar nach dem gewünschten Verhalten erfolgen. Studien zeigen, dass unmittelbare Belohnungen die intrinsische Motivation sogar steigern können. - Keine Bestechung!
Ein «Bestechungsversuch» ist z. B., wenn du sagst: «Wenn du jetzt aufhörst, deine Schwester zu schlagen, bekommst du ein Glace.» Das Problem dabei: Das unerwünschte Verhalten wird am Ende sogar noch «belohnt». Belohnungen sollten also vorher und unabhängig von problematischem Verhalten angekündigt werden. - Das passende System finden
Ob Sticker-Tabelle, App oder Münzsystem finde heraus, welches Belohnungssystem zu euch passt. Wichtig ist, dass es für dich und dein Kind praktikabel und motivierend ist. - Belohnungen langsam ausschleichen
Wenn du merkst, dass dein Kind die Tätigkeit auch ohne Belohnung macht oder die Belohnung an Bedeutung verliert, kannst du sie allmählich reduzieren und schliesslich weglassen. - Belohnungen bei Kindern mit ADHS
Für Kinder mit ADHS zeigen Studien, dass Belohnungssysteme besonders effektiv sein können. Wichtig ist hier jedoch, kleine und unmittelbare Belohnungen einzusetzen, da diese Kinder weniger gut auf langfristige Ziele reagieren.
Vielleicht lautet die wichtigste Frage für Eltern also nicht: «Soll ich mein Kind belohnen?»
Sondern: «Wann und wie setze ich Belohnungen sinnvoll ein?»
Artikel von Parenting Translater: The anti-reward movement seems to be growing... but is it really backed by research? von Dr. Cara Goodwin